Die Gefahr der Sprachdeprivation
90-95% der tauben und hörbehinderten Kinder werden in hörende Familien geboren (Mitchell & Karchmer 2004). In den Familien wird eine Lautsprache im Alltag genutzt und über Gebärdensprachen ist meist nicht viel bekannt.
Ohne funktionierendes Hören ist der Zugang zu einer Lautsprache für Kinder erschwert bis gar nicht möglich. Gebärdensprache als natürliche, visuelle Sprache bietet hingegen sofort einen uneingeschränkten Zugang zu einer vollständigen Sprachentwicklung.
Bis zum ca. fünften Lebensjahr sind Kinder höchst sensibel für Sprachinput und stecken mitten in der Sprachentwicklung. Besteht in dieser Phase ein unzureichender Zugang zu einer Erstsprache – egal ob Laut- oder Gebärdensprache – kann ein vollständiges Sprachsystem nicht entwickelt werden und weitere, davon abhängige Entwicklungsschritte können entsprechend nicht eingeleitet werden (z. B. die sozial-emotionale Entwicklung, Literacy allgemein, die Intelligenzentwicklung, etc.).
Entwickelt ein Kind keine vollständige Erstsprache aufgrund einer fehlenden zugänglichen Sprache, sprechen wir von Sprachdeprivation (Gulati 2018; Wegner 2024).
„„Sprachdeprivation“ bezeichnet einen Zustand, in dem ein Mensch in seinen sensiblen Lernphasen aus unterschiedlichen Gründen keinen ausreichenden sprachlichen Input in einer zugänglichen Modalität erfährt und in dessen Folge keine vollständige Erstsprache (L1) ausbildet.“ (Wegner 2024:19)
Der Gefahr einer Sprachdeprivation sind auch Kinder ausgesetzt, die frühzeitig mit einem Cochlea-Implantat (CI) oder Hörgeräten versorgt und rein Lautsprachlich gefördert werden (Hall 2017; Humphries et al. 2012). Die individuellen Sprachentwicklungsverläufen und altersgerechten Kompetenzen zeigen sich stark variabel (u. a. Tuller & Delage 2014; İkiz et al. 2024). Sprachdeprivation ist entsprechend oft eine unbeabsichtigte Folge einer reinen Lautsprachförderung hörbehinderter Kinder (vgl. Gulati 2018:25).
„Eine frühe Exposition des hörbehinderten Kindes mit qualitativ hochwertiger Gebärdensprache durch Native Signer*innen würde das Risiko einer unzureichenden Sprachentwicklung minimieren.“ (Wegner 2024:24f.).
Das Fazit ist also: Eine Sprachdeprivation kann vermieden werden, wenn frühzeitig ein multimodaler Sprachinput, also in Laut-, Schrift- und Gebärdensprache, angeboten wird (Gulati 2018; Hall, Levin & Anderson 2018; Wegner 2024).
Wie genau es aussieht, als taubes Kind ohne Sprache aufzuwachsen, zeigt das Video der Deutschen Gehörlosen Jungend: https://www.youtube.com/watch?v=IjRdY5RYz_o.
Meine Quellen:
Gulati, S. (2018). Language Deprivation Syndrome. In: Glickman, N. S. & Hall, W. C. (Eds.). (2018). Language deprivation and deaf mental health, pp. 24-53. Routledge.
Hall, W. C. (2017). What You Don’t Know Can Hurt You: The Risk of Language Deprivation by Impairing Sign Language Development in Deaf Children. Matern Child Health Journal, 21(5), 961–965. https://doi.org/10.1007/s10995-017-2287-y
Hall, W. C., Levin, L. L., & Anderson, M. L. (2017): Language deprivation syndrome: a possible neurodevelopmental disorder with sociocultural origins. In: Social psychiatry and psychiatric epidemiology, 52(6), 761–776. https://doi.org/10.1007/s00127-017-1351-7
Humphries, T., Kushalnagar, P., Mathur, G., Napoli, D. J., Padden, C., Rathmann, C., & Smith, S. R. (2012). Language acquisition for deaf children: Reducing the harms of zero tolerance to the use of alternative approaches. Harm Reduction Journal, 9(16). https://doi.org/10.1186/1477-7517-9-16
İkiz Bozsoy, M. & Yücel, E. (2024). Language, cognitive, and speech in noise perception abilities of children with cochlear implants: a comparative analysis by implantation period and bilateral versus unilateral cochlear implants. In: Eur Arch Otorhinolaryngol 281(1). https://doi.org/10.1007/s00405-024-08462-x
Tuller, L. & Delage, H. (2014): Mild-to-moderate hearing loss and language impairment: How are they linked? In: Lingua 139(8). https://doi.org/10.1353/sls.2004.0005
Wegner, S. (2024). Sprachdeprivation in der Deaf Community. In: Gemeinsam leben, Vol. 1, pp. 18-27.